Marketing-Umfragen: Die sinnlose Sonntagsfrage der Zeit
Im Facebook-Feed bin ich auf eine Werbeanzeige der Wochenzeitung „Die Zeit“ gestoßen. Das Unternehmen verspricht den Facebook-Nutzern nach Teilnahme an der „Sonntagsfrage“ vier kostenlose Ausgaben des Magazins. Im Artikel führe ich aus, wie manche Marketing-Umfragen Wissenschaftlichkeit suggerieren und nicht nur für Teilnehmer Zeitverschwendung sind, sondern auch den Ruf einer Branche beschädigen.

Die Gewinnung verlässlicher Daten ist auf Basis einer Online-Umfrage ohnehin kaum möglich. Die hier thematisierte Befragung krankt jedoch nicht nur am Erhebungsmodus. Inhaltlich soll es nach einem Klick auf die Anzeige um eine Abwandlung der klassischen Sonntagsfrage gehen. Mit einer ähnlichen Frage werden bei verlässlichen Umfragen, z. B. der Forschungsgruppe Wahlen, die Stimmenanteile der Parteien bei der nächsten Bundestagswahl geschätzt.
Die Sonntagsfrage in der Zeit-Version
Die Sonntagsfrage in der etablierten Version lautet:
„Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“
Forschungsgruppe Wahlen

Wie im Screenshot zu erkennen, ändert die Zeit die Frage und formuliert: „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Bundestagswahl wäre? Wählen Sie eine der großen Parteien“. Zunächst heißt es hier anstelle von „Welche Partei würden Sie wählen (…)“ nun „Wen würden Sie wählen (…)“, was schon für sich dem deutschen Wahlsystem nicht gerecht wird und sich nicht mit den folgenden Antwortmöglichkeiten deckt.
Noch bemerkenswerter aber ist der Zusatz „Wählen Sie eine der großen Parteien“. Untermauert wird dies durch die Gestaltung der Antwortmöglichkeiten: Während die sechs „großen“ Parteien mit Logo aufgelistet werden, ist für „andere Partei“ oder „Nichtwähler“ nur eine winzige Checkbox verfügbar. Dies dürfte die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, mit der ein Nutzer eine bestimmte Antwortoption wählt. Nach aktuellen Umfragen kommen die „sonstigen“ Parteien immerhin auf 6% Stimmenanteil, sodass sich auch hier das offensichtliche Desinteresse an belastbaren Umfrageergebnissen zeigt. Auf den ersten Blick fällt zudem die unschöne optische Gestaltung der Frage und Antwortmöglichkeiten auf, die an eine Homepage der 90er Jahre erinnert.
Bedeutsamkeit der Fragengestaltung
Was man dazu wissen muss: In der wissenschaftlichen Umfrageforschung sind Frageformulierung, Gestaltung von Antwortvorgaben und Fragebogenlayout von zentraler Bedeutung für die resultierende Datenqualität. Es ist schlicht sinnlos, Fragenformulierungen aus dem Bauch heraus am Schreibtisch zu erstellen und als ungetestetes Instrument an einer Vielzahl von Personen einzusetzen. Mit sogenannten Pretests wird bei einem wissenschaftlichen Vorgehen zunächst die Qualität solcher Fragen überprüft. Suggestivfragen wie die „Sonntagsfrage“ der Zeit werden so noch vor einem größeren Einsatz im Feld identifiziert, angepasst oder verworfen.
Marketing-Umfragen dieser Art sind also in mehrerlei Hinsicht ein Ärgernis. Man investiert als Befragter seine Zeit in eine Umfrage und bemüht sich, wenn man sich schon zur Teilnahme bereit erklärt, in der Regel um eine sorgfältige Beantwortung der Fragen. Dies geschieht in der Erwartung, dass der Auftraggeber der Umfrage ihre Erstellung und Auswertung allein aus Respekt vor den Antwortenden mit ähnlicher Sorgfalt betreibt. Diese Erwartung an Reziprozität wird jedoch mit solchen lieblos erstellten Umfragen untergraben. In der Folge wird der Teilnehmer vermutlich an zukünftigen Umfragen entweder gar nicht mehr teilnehmen oder bei der Beantwortung mit ähnlich geringer Sorgfalt wie der Auftraggeber vorgehen.
Im Falle der Zeit ist dies besonders perfide, weil mit der Sonntagsfrage eine für die meisten sehr bekannte Frage gestellt wird, die vermeintliche Seriosität und wissenschaftliche Bedeutung der Ergebnisse vorgaukelt. Diesen Eindrücken nach ist das Abstimmungsergebnis für die Zeit also von absolut nachrangigem Interesse. Aber was wird dann mit der Umfrage bezweckt?
Was soll die Umfrage dann?
Die Teilnehmer sollen zum Abschluss eines Abonnements bewegt werden. Neben den Kontaktdaten des Befragten liegt nach dem Abschicken des Formulars praktischer Weise auch gleich die Parteipräferenz des neuen Lesers vor. Wird das Abo nach der dritten Ausgabe nicht gekündigt, werden 5,40€ pro Ausgabe für weitere Exemplare fällig. Aus der harmlosen Umfrageteilnahme wird so schnell ein kostenpflichtiges Abonnement, das um regelmäßige Werbe-E-Mails ergänzt wird.

Ein ähnliches Vorgehen ist leider weit verbreitet und trägt dazu bei, dass es wissenschaftlichen Instituten zunehmend schwer fällt, Befragte für ihre Umfragen zu gewinnen. Die Ausschöpfungsquote, also der Anteil der tatsächlich Befragten an der ursprünglichen Auswahl der Stichprobe, sinkt seit Jahren. Während in den 1950er Jahren die Teilnahmebereitschaft noch bei 75% lag, sinkt sie kontinuierlich und liegt heute im Schnitt bei unter 40%1.
Marketing-Umfragen als Instrument von Unternehmen
Gibt man „Umfrage Marketing“ in die Google-Suche ein, so stößt man auf Blogs und zahlreiche Tipps, wie man Umfragen gewinnbringend für das eigene Unternehmen einsetzt. Es wird kein Geheimnis daraus gemacht, dass aus Sicht vieler Kommunikationsabteilungen Umfrageergebnisse für mediale Aufmerksamkeit sorgen und daher ein bevorzugtes Marketing-Instrument darstellen:
„Verbraucher-Umfragen sollten unabhängig vom Thema möglichst repräsentativ sein. (…) Als Richtwert für eine repräsentative Stichprobe gilt eine Anzahl von etwa 1.000 Befragten. Bei Online-Umfragen stellt diese Stichprobengröße meist kein Problem dar und die Ergebnisse liegen innerhalb kürzester Zeit vor.“
Quelle: oseon.com
Die Äußerung fasst in anschaulicher Weise den Zielkonflikt zwischen wissenschaftlichen Standards und dem Bedarf nach schnellen und kostengünstigen Marketing-Umfragen zusammen. Weder lassen sich mit einer Online-Umfrage repräsentative Schlüsse ziehen, noch liegt bei einer Anzahl von 1.000 Personen Repräsentativität vor, noch können gute Ergebnisse in kürzester Zeit vorliegen. Repräsentativität lässt sich überhaupt nur dann erreichen, wenn ich unter anderem versuche, schwer erreichbare Personen teils über Tage oder Wochen hinweg zu erreichen. Doch nicht nur das – teils finden sich herabsetzende Äußerungen in Bezug auf wissenschaftliche Umfragen:
„Inzwischen bilde ich mir ein zu spüren, ob sich die Online-Umfrage wirklich für meine Perspektive interessiert oder nur ein akademisches Schema abarbeitet.“
„Allerdings sprechen wir hier nicht von langweiligen, wissenschaftlichen Studien – derart gestaltete Umfragen sind eher kontraproduktiv im Marketing.“
„Damit ist eine Online-Umfrage ein Content-Element mit der Möglichkeit, Adressen einzusammeln.“
Quelle: content-marketing-star.de
Wo liegt das Problem mit Marketing-Umfragen?
Stephan Heinrich übersieht, dass ein akademisches Schema zentrale Voraussetzung für verwertbare Angaben ist. Unter einer ungetesteten Frage ohne theoretischen Hintergrund versteht jeder Befragte subjektiv etwas anderes, womit auch eine anschließende Verwertung für die Tonne ist. Im Artikel schwadroniert der Autor ohne Bezug auf Evidenz von offenen vs. geschlossenen Fragen und von Antwortvorgaben nach Bauchgefühl. Auch wundert er sich über die für wissenschaftliche Befragungen investierte Zeit, „ohne etwas dafür zu bekommen“. Für all diese Aspekte existiert eine Best-Practice, wonach zum Beispiel eine Reihe von Antwortvorgaben auf ein intersubjektiv gleiches Verständnis durch die Befragten getestet wurden. Ganze Wälzer widmen sich diesen Themen auf Basis empirischer und nachprüfbarer Erkenntnisse.
Keine methodisch einwandfreie Umfrage hat das Ziel, „Adressen einzusammeln“. Auch die Aussage, dass Befragte wissenschaftlicher Studien nichts für die Teilnahme bekommen, ist falsch. Wissenschaftliche Umfragen arbeiten häufig mit Incentives, also einer kleinen und meist monetären Aufwandsentschädigung. Man stößt nach einer seriösen Aufklärung über das Anliegen der Umfrage und ihren Auftraggeber stets auf Bereitschaft zur Teilnahme – auch ohne Gegenleistung. Bei Marketing-Umfragen gibt man dagegen persönliche Daten preis, die im Gegensatz zur gesellschaftlichen Bedeutung von Umfragen vor allem der Profitmaximierung eines Unternehmens dienen.
Eine solches Vorgehen ist zwar legitim, allerdings sollte ein Befragter über das Anliegen der Umfrage im Vorhinein aufgeklärt werden, sofern dieses nicht offensichtlich ist. Selbstverständlich haben Unternehmen ein berechtigtes Interesse daran, Information über ihre Kunden zu gewinnen. Auch im Rahmen der unternehmerischen Marktforschung lassen sich jedoch wissenschaftliche Standards umsetzen.
Nach der Suggestion einer wissenschaftlichen Befragung private Daten zum Verkauf von Abos und Versenden von Werbemails zu erfassen, kann jedoch als Irreführung bezeichnet werden. Ein durchschnittlicher Teilnehmer wird nach schlechten Erfahrungen mit Umfragen kaum mehr zwischen seriösen und Marketing-Umfragen unterscheiden, wodurch der Ruf aufrichtiger Umfragen mit echtem Erkenntnisinteresse leidet. Ich persönlich kenne einige Menschen, die am Telefon nach dem Wort „Umfrage“ unverzüglich auflegen – ich kann es ihnen kaum verübeln.
1. Schnell, Rainer (2012): Survey-Interviews, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden. / Ausschöpfungsrate: S. 164
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